Angeklagter im Tugce-Prozess: "Er kann keine Opferperspektive einnehmen"

03-06-2015 16:18

Im Prozess um den Tod der Studentin Tugce Albayrak ging es um die Sozialprognose des angeklagten Sanel M. Ein Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe malte eine düstere Zukunft.

Sanel M. schüttelte den Kopf, als der Vorsitzende Richter ihn am ersten Prozesstag auf das "nicht unproblematische Verhältnis" ansprach, das der 18-Jährige zu seinem Vater habe. Ob er das näher erläutern wolle? Sanel M. wollte nicht. Am Mittwoch, dem achten Verhandlungstag, ahnt man, warum.
 
Sanel M. hat am 15. November 2014, morgens um 4.12 Uhr, auf dem Parkplatz vor einer McDonald's-Filiale in Offenbach der Studentin Tugce Albayrak einen kräftigen Schlag gegen den Kopf verpasst. Sie starb an den schweren Verletzungen. Er ist vor der 10. Großen Strafkammer des Landgerichts Darmstadt wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt.
Erstmals im Prozess erscheint ein Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe Offenbach. Er soll seine Einschätzung abgeben, ob Sanel M. nach Jugend- oder nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden soll. Sanel M. war zwei Wochen vor der Tat 18 geworden, die Hauptverhandlung findet vor der Jugendstrafkammer statt.
 
Der gewalttätige Vater
 
Der Jugendgerichtshelfer berichtet, dass sich Sanel M.s Mutter bereits 2012 an die Jugendgerichtshilfe gewandt habe, weil weder sie noch Sanel M.s Vater sich in der Lage sahen, auf den Jungen Einfluss zu nehmen.
 
Sanel M. war seinen Eltern entglitten. Vermutlich auch, weil der Erziehungsstil des Vaters, den er viele Jahre zuvor eingeschlagen hatte, der falsche war. Der Vater sei in den Jahren 2005 und 2006 "sehr gewalttätig" gegen Sanel M. vorgegangen, berichtet der Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe. Er habe den Jungen "massiv und oft geschlagen, weil er nicht das gebracht hat, was der Vater erwartet hat". Auch die Mutter soll der Vater attackiert haben.
 
Das muss die Zeit gewesen sein, als Sanel M. von seinen Grundschullehrern die Empfehlung bekam, aufs Gymnasium zu wechseln. Der Vater wollte das unbedingt, Sanel M. nicht. Er musste aufs Gymnasium, der Widerwille rächte sich. "Er sagte mir, er habe viele Lehrinhalte dort gar nicht verstanden", sagt der Jugendgerichtshelfer. Sanel M. musste die fünfte Klasse wiederholen, dann die Schule verlassen.
 
Jetzt ging es bergab. Sanel M. lebte seine Respektlosigkeit gegenüber Lehrern und Schülern aus. Einem Viertklässler, den er nicht kannte, der ihm nichts getan hatte und der ihm vor allem körperlich unterlegen war, rammte er grundlos ein heißes Feuerzeug in den Nacken. Wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilte ihn das Amtsgericht Offenbach zu einer Woche Jugendarrest.
 
Die Lebensaufgabe des Angeklagten
 
Im Beisein seiner Mutter erschien er beim Jugendamt. Häusliche Gewalt sei bei ihnen zu Hause kein Thema mehr, sagte die Mutter. Die Familie habe das intern geregelt, ein Onkel habe vermittelt. Warum aber verletzte Sanel M. den Viertklässler? Das sei "ein dummer Jungenstreich" gewesen, sagte Sanel M.
 
Für den Jugendgerichtshelfer steht fest: Sanel M. fehlt Empathie. "Er kann die Opferperspektive nicht besonders gut einnehmen." Dieses Problem werde für Sanel M. ebenso "eine Lebensaufgabe" bleiben wie der Umgang mit Gewalt, den er in den Griff kriegen müsse. Beiden Problemen müsse er sich "sehr intensiv" widmen, eine Therapie sei unumgänglich. Die Jugendgerichtshilfe selbst könne für Sanel M. nichts weiter tun. Anders als deren sonstige Kundschaft sei der 18-Jährige in der Lage, sich selbst um seine Anliegen zu kümmern, zudem sei er "eingebunden in eine familiäre Situation".
 
Dem Jugendgerichtshelfer erzählte Sanel M., dass er die Haft als bedrückend empfinde. Er sei froh, dass er dort arbeiten könne. "Es schien mir so, dass er in der JVA nachgedacht hat, dass er motiviert ist, einen neuen Weg einzuschlagen." Ob ihm das wirklich gelingen könnte, sei aber schwer zu sagen.
 
Auf der Anklagebank sitzt ein schmächtiger Junge mit kleinen, dunkelbraunen Augen. Er kann stundenlang verharren, ohne seine Körperhaltung zu verändern. Wenn er es doch tut, malt er mit dem rechten Daumen Muster auf den schwarz lackierten Holztisch. Er hat wenig gemein mit dem Schläger, von dem nach der Tat Bilder kursierten.
 
Die Fotos zeigen einen selbstbewussten jungen Mann, breitbeinig, grinsend, die Hand zum Victory-Zeichen erhoben. Im Gericht wagt er nicht einen Blick in den engen, immer vollbesetzten Zuschauerraum, in dem neben Tugces Familie auch seine Angehörigen sitzen. Freunde, die als Zeugen aussagten, schaute er stumm an.
 
Jugendgerichtshelfer kann nicht weiterhelfen
 
Vor dem Jugendgerichtshelfer hatte am Mittwoch ein Polizeibeamter ausgesagt, der sich um "Basu 21"-Kandidaten kümmert: besonders auffällige Straftäter unter 21 Jahren. Sanel M. war bis zu seiner Verhaftung einer von ihnen. Der Polizist sagte, Sanel M. habe auf ihn "abgeklärt" gewirkt. Dabei hat er ihn nur zweimal vernommen, einmal davon im Treppenhaus vor der elterlichen Wohnung.
 
Sanel M. ist in Deutschland geboren, im Bahnhofsviertel von Offenbach aufgewachsen. Seine Eltern stammen aus Sjenica in Serbien. Er hat einen qualifizierten Hauptschulabschluss und vier Einträge im Vorstrafenregister: Diebstahl, gefährliche Körperverletzung, gemeinschaftliche räuberische Erpressung und besonders schwerer Diebstahl.
Erwartet Sanel M. nun ein Urteil nach Erwachsenenstrafrecht? Der Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe sagt, er könne keine Einschätzung abgeben. Es klang fast ein wenig gleichgültig. Der Vorsitzende Richter Jens Aßling zeigte sich erstaunt, hakte noch einmal nach, schließlich sei die Jugendgerichtshilfe für solch eine Bewertung vorgesehen. Nein, er könne das nicht, wiederholte der Mann.
 
Der von der Verteidigung gestellte Befangenheitsantrag gegen Aßling wurde abgelehnt.
 
Von , Darmstadt/ spiegel