Jäger der verlorenen Stimmen

05-06-2015 17:23

Zehntausende Freiwillige haben sich in der Türkei organisiert, um bei der Parlamentswahl am Sonntag die Auszählung zu überwachen und Fälschungsversuche zu verhindern. Erdogans AKP misstrauen sie zutiefst.

 

Am Sonntag wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt, und eines steht jetzt schon fest: Es wird sehr knapp. Obwohl die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des nur formal überparteilichen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auch diesmal, wie bei allen Wahlen seit 2002, mit deutlichem Abstand stärkste politische Kraft werden wird, könnte der Sonntag den Beginn einer Wende in der türkischen Innenpolitik bedeuten.

 

Sollte es der vor allem von Kurden, aber auch von einem Teil der türkischen Linken und anderen Erdogan-Gegnern unterstützten „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP) des charismatischen Oppositionsführers Selahattin Demirtaş nämlich gelingen, die Zehnprozenthürde zum Einzug in das Parlament zu überwinden, muss die AKP womöglich erstmals seit ihrer Gründung eine Koalition eingehen.

 

Mit Sicherheit wird sie, kommt die HDP ins Parlament, das äußerst ehrgeizige Ziel verfehlen, zwei Drittel der Parlamentssitze und damit eine verfassungsändernde Mehrheit zu erringen. Doch ob die Partei von Demirtaş die undemokratisch hohe Sperrklausel überwinden kann, ist unklar. Manche Umfragen sagen ihr Erfolg, andere ein knappes Scheitern voraus. Bei der Wahl wird die Behauptung, es komme auf jede Stimme an, jedenfalls keine Floskel sein.

 

Erdogan-Gegner befürchten Wahlbetrug

Weil das so ist, befürchten viele Erdogan-Gegner, dessen AKP könne versuchen, ihrem Wahlsieg (also vor allem dem Scheitern der HDP an der Sperrklausel) mit unlauteren Methoden nachzuhelfen. Suat Kiniklioglu, ein ehemaliger Parlamentsabgeordneter der AKP, der sich schon vor Jahren von der Partei abwandte, warnte schon im vergangenen Jahr: „Man muss sicherstellen, dass es die im Wahllokal abgegebenen und ausgezählten Stimmen auch bis in die Computer der Obersten Wahlleitung schaffen. Auf diesem Weg finden die meisten Betrügereien statt.“

Cengiz Aktar, einer der angesehensten Politikwissenschaftler des Landes, schrieb in einem offenen Brief an die türkischen Wähler unter dem Titel „Achten Sie auf Ihre Stimme“, am Sonntag sei „mit allen möglichen Provokationen, Manipulationen und Kontroversen zu rechnen. Deshalb ist es Ihre Aufgabe, nicht nur Ihre Stimme abzugeben, sondern auch auf sie zu achten.“ Das haben sich auch die Gründer von „Oy ve Ötesi“ gesagt. Die Nichtregierungsorganisation, deren Name sich sinngemäß als „Wahl und mehr“ übersetzen ließe, wacht am Sonntag über die größte Wahlbeobachtungsmission in der Geschichte der Türkei.

Wahl und mehr“: Vieles ist noch Improvisation

In der Zentrale von „Wahl und mehr“, die sich über zwei Büroetagen in einem Geschäftsgebäude an der Istanbuler Unabhängigkeitsstraße erstreckt, geht es hektisch zu. Dass man sich Büroräume direkt an der zentralen Nervenader des europäischen Teils der Metropole leiste, habe man einem reichen Gönner zu verdanken, sagt Selin Kori, eine der wenigen hauptberuflichen Mitarbeiterinnen der aus Spenden finanzierten Organisation. Die Istanbulerin hat in den Vereinigten Staaten studiert, sie kennt die Welt, spricht schnell und ahnt die Fragen ihrer Gesprächspartner oft schon, bevor die sie gestellt haben.

Man wolle jetzt bestimmt wissen, wie sich „Wahl und mehr“ finanziere, vermutet Selin Kori richtig und erklärt, dass Spenden von Großunternehmen für die Organisation tabu seien. Zuwendungen der Regierungen Schwedens und der Niederlande im Rahmen der Demokratieförderung habe „Wahl und mehr“ allerdings angenommen. Die Mehrheit der Zuwendungen seien jedoch Kleinspenden.

 

faz/Jäger der verlorenen Stimmen