Tsipras will die EU in den Wahnsinn treiben

03-06-2015 00:34
Die griechische Regierung ist Meister im Spiel mit den Ausgeburten der europäischen Technokratie. Drohung und vermeintliches Aufeinander-Zugehen bestimmen das Spiel. Nur: bis zu welchem Ende?
 
Auf die letzte Drohung folgt die allerletzte, dann gibt's ein bisschen Zeit – und wieder eine Drohung: Alexis Tsipras' Regierung hat im Umgang mit Europa eine klare Strategie entwickelt. Die Deutschen um Kanzlerin Angela Merkel spielen darin gewiss keine Heldenrolle
 
Die Verhandlungsstrategie der Europäischen Union gegenüber der griechischen Regierung funktioniert so: "Dies ist wirklich unser allerletztes Angebot." Kurze Pause. "Es sei denn, Sie warten noch ein paar Tage. Dann machen wir Ihnen ein neues."
 
n der Nacht zum Dienstag saßen einige führende Entscheidungsträger im Berliner Kanzleramt zusammen. Schließlich ließen Angela Merkel, François Hollande, Jean-Claude Juncker, Mario Draghi und Christine Lagarde verlauten, man werde "mit großer Intensität" weiter nach einer Lösung suchen.
 
Mit der griechischen Regierung bleibe man "in engem Kontakt". Am Dienstag erfuhr die "Welt" dann aus Verhandlungskreisen der Gläubiger, man denke, man habe sich auf einen gemeinsamen Entwurf geeinigt.
 
Das klingt hoffnungsfroh, Skeptiker mögen jedoch einwenden, dass die vorläufige Formulierung, man denke, man habe sich auf einen Entwurf geeinigt, erheblichen Spielraum zum Zurückrudern bietet. Zumal der Ansatz eines Vorschlagsentwurfs allein in Gläubigerkreisen kursierte. Die Erfahrung der vergangenen Monate lehrt indes, dass die griechische Regierung Vorschläge, die ihre Gläubiger für ziemlich konsensfähig hielten, in der Regel als unzumutbar abtut.
 
G 7 soll nicht verhagelt werden
 
Nun drängt wieder einmal die Zeit. Die Bundeskanzlerin würde das störende Griechenland-Thema gerne vor dem Wochenende abräumen, damit es ihr nicht den G-7-Auftritt auf Schloss Elmau verhagelt. Die Griechen müssen spätestens Freitag eine Tilgungsrate von 300 Millionen Euro an den Internationalen Währungsfonds überweisen.
 
Sie brauchen darüber hinaus eine Einigung mit ihren Geldgebern, damit diese die noch verbliebene Kredittranche aus dem zweiten Hilfspaket auszahlen. Dabei geht es um 7,2 Milliarden Euro, die den griechischen Staatsbankrott wieder einmal vorerst verhindern sollen.
 
Jüngste Meldungen deuten zwar auf eine gewisse Bewegung: Die EU-Kommission soll der griechischen Regierung eine Art freundlich formulierten Reform-Forderungskatalog der Gläubiger vorlegt haben. Athen hat seinerseits eine Reihe von Maßnahmen angekündigt – darunter eine Mehrwertsteuerreform und ein härteres Vorgehen gegen Steuerbetrug.
 
Selbst über weitere Rentenkürzungen und eine Erhöhung des Renteneintrittsalters – eigentlich ein Tabu für die linke Syriza-Regierung – denke Premierminister Alexis Tsipras neuerdings nach, berichteten griechische Medien.
 
Ein Praktikum in Delphi kann auch nicht helfen
 
Doch selbst wenn dies Hinweise darauf sein sollten, dass die Ankündigung einer politische Lösung in der Luft liegt, die der Kanzlerin einen griechenfreien Gipfel im idyllischen Elmau beschert: Dass die griechische Krise damit ihre Peripetie erreicht hätte, wird niemand sich erkühnen zu hoffen.
 
Man muss kein Praktikum in Delphi gemacht haben, um die Prognose zu wagen, dass wir bald neue Variationen des alten Spektakels erleben werden: allerletzte Angebote, Listen mit Reformforderungen, Listen mit angeblich beschlossenen Reformen, Überweisungen in letzter Minute.
 
Dann wieder Klagen über nicht eingehaltene Reformversprechen, neue Forderungen, Interviews der Protagonisten auf beiden Seiten, die sich gegenseitig mehr oder minder diplomatisch, Sturköpfigkeit, Ignoranz und ideologische Verblendung vorwerfen. Und so weiter und immer wieder von vorn, bis zum dritten, vierten oder fünften Hilfspaket.
 
Dieses Szenario ist endlos fortsetzbar, weil die griechische Seite die medialen und psychologischen Mechanismen dieser Krisendynamik besser für sich zu nutzen weiß als ihre europäischen "Partner". Dabei hilft dem Finanzminister Varoufakis nicht nur eine spieltheoretische Grundbildung.
 
Kommunikationsguerilla
 
Dass Griechenland sagt, es will nicht aus dem Euro raus, ist ein kluger Schachzug. Nun müssen die anderen das Land schon vor die Tür setzen. Aber diese Sandale will sich niemand anziehen. Es ist kaum zu übersehen, dass die Protagonisten der Syriza-Bewegung Erben links-aktionistischer Kunstbewegungen wie der situationistischen Internationale sind. Die Mechanismen des politischen Europa bringen Tsipras und Compagnie mit den Methoden der Kommunikationsguerilla zum Erliegen.
 
Jedes Interview ist eine Intervention, die zunächst einmal eine Funktion hat: Sie hält den Apparat an. Sie unterbricht die Maschinen der europäischen Technokratie. Der seit Monaten immer wieder erzielte Aufschub einer "Lösung" ist für die griechischen Polit-Aktionskünstler deshalb bereits ein Triumph.
 
In einem mehr als lesenswerten Text, den Alexis Tsipras in der französischen Zeitung "Le Monde" und auf der Webseite der griechischen Regierung veröffentlichte, macht er eines klar: Es geht ihm letztlich nicht darum, politische Ergebnisse zu erzielen, die sich in die Geschichte "europäischer Kompromisse" einschreiben.
 
Tsipras sieht sich als militanter Kämpfer in einem ideologischen Konflikt. Er will keine Kompromisse mit diesem Europa, dessen ökonomische Vernunftprinzipien er verwirft: Er will ein anderes Europa. Im Zentrum eines Kampfes zweier "sich diametral entgegenstehender Europa-Konzepte" sieht Tsipras auf der einen Seite ein Europa der "Gleichheit und Solidarität zwischen seinen Völkern und Bürgern".
 
Die Deutschen sind die böse, europäische Macht
 
Dafür steht in seinen Augen selbstredend Griechenland. Wer dieses topsolidarische und megagerechte Tsipras-Europa will, könne von der griechischen Regierung unmöglich verlangen, die Austeritätspolitik fortzusetzen – oder auch nur, dass sie ihren Verpflichtungen nachkommt.
 
Wer das fordere, verlange nicht weniger als die "vollständige Abschaffung der Demokratie in Europa". Genau dieses Ziel verfolgen aber laut Tsipras eben jene dunklen Mächte, die den "Doktrinen eines extremen Neoliberalismus" folgten. Griechenland sei das "erste Opfer" dieser "neuen europäischen Macht".
 
Dass er Deutschland für diesen extrem neoliberalen demokratiezerstörenden Hegemon hält, muss Tsipras dann nicht mehr ausbuchstabieren. Stattdessen empfiehlt er abschließend die Lektüre von Hemingways Roman "Wem die Stunde schlägt." Das Werk, die Älteren mögen sich erinnern, spielt im Spanischen Bürgerkrieg, dem ersten großen ideologisch motivierten Gemetzel des 20. Jahrhunderts auf europäischem Boden.
 
Kann sein, dass Tsipras mit seinem Verweis auf die Literatur vor dem Schlimmsten warnen wollte. Vielleicht wollte er aber auch bloß drohen. Wir suchen weiter "mit großer Intensität" nach einer Lösung. Und, klar, wir bleiben in Kontakt.
 
welt